Der Wettlauf um die stärksten Ketten
Kulturgeschichtlich erreichen die geschweißten Ketten Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Sie haben einen starken Symbolcharakter und stehen für Industrialisierung und technischen Fortschritt, vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie. Ob in Stahlwerken, wie z. B. am berühmten Dampfhammer „Fritz“ in der Firma Krupp in Essen oder in Maschinenfabriken, im Bergbau oder auf Werften, überall wurden Ketten zum Heben schwerster Lasten benötigt, die ihrerseits – etwa in Form mächtiger Gußstahlblöcke (Abbildung) technische Höchstleistungen repräsentierten.
Daß sich auch die deutsche Kettenindustrie an die Herstellung schwerer Ketten wagte, ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß sie auf diesem Gebiet eine Chance sah, die Vorrangsstellung der englischen Hersteller zu brechen. Diese beherrschten den Markt vor allem deshalb, weil sie schon lange vor 1900 begonnen hatten, ihre Ketten einer strengen Qualitätskontrolle zu unterziehen. Der Konkurrenzdruck der insgesamt sehr starken und traditionsreichen englischen Eisen- und Stahlindustrie führte im wilhelminischen Deutschland u. a. zur Verabschiedung der Flottenbaugesetze von 1898 und 1900.
Sie leiteten einen Rüstungswettlauf ein und verhalfen der Stahlindustrie sowie den deutschen Werften und ihren Zulieferbetrieben zu wirtschaftlichem Aufschwung. Konteradmiral von Tirpitz, der seit 1898 Staatssekretär im Reichsmarineamt war, sah einen besonderen Aufschwung für die Bereiche der deutschen Industrie „welche die Materialien für die Seegewerbe liefern, z. B. die deutsche Eisenindustrie für den Schiffbau“.
Eine amtliche Statistik der Jahre 1910-13 zeigt allerdings, daß die Einfuhr an Ankerketten, Schiffsketten und Ketten zur Kettenschiffahrt aus England sukzessive anstieg. Lediglich Ketten über 80 mm Glieddurchmesser wurden laut einer Verbraucherumfrage in den Jahren 1911-13 nicht eingeführt, sondern von der deutschen Kettenindustrie bezogen, die in jener Zeit bereits Ketten bis 86 mm fertigte.
In den 20er Jahren setzte der Wettlauf um die stärksten Ketten der Welt ein. Die 100-mm-Marke, 1926 durch die Firma Schlieper in der Grüne bei Iserlohn erreicht‘, wurde in der Kettenindustrie zum Maß der Dinge. Werbewirksam waren vor allem die Ankerstegketten in Stärken über 100 Millimeter, mit denen Passagierdampfer wie z. B. „Columbus“, „Bremen“ oder „Europa“ ausgestattet wurden (Abbildung).
Seit dem Ende der 20er Jahre richtete sich das Interesse zunehmend auf den Werkstoff Stahl und auf die Entwicklung besonderer Verfahren zur Verbesserung der Verschleißfestigkeit und Leistungsfähigkeit der Ketten. Bis heute stiegen die Anforderungen an die Produkte kontinuierlich. Dabei waren Maßhaltigkeit, Festigkeit, Zähigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Verschleiß die wichtigsten Wertfaktoren. Außerdem galt es, höhere Leistungswerte zu erzielen, bei gleichzeitiger Verringerung der Kettenstärke sowie des Gewichts.
So verlangte beispielsweise der Schiffsbau … zugunsten des Laderaums leichtere Ketten mit höheren Prüf- und Bruchlastwerten und auch die Hebezeugindustrie, die ihre Erzeugnisse immer mehr nach Größe und Gewicht baut(e), (verwendete) kleinere und dünnere Ketten …, mit vielfach höheren Leistungswerten als bei Baukonstruktionen, die noch vor wenigen Jahren im Markt waren. Zusammen mit Hüttenwerken und Stahlforschungsinstituten wurden spezielle Kettenstähle mit besonderer Festigkeit entwickelt. Parallel dazu wurden neue Schweißverfahren erprobt und die Automatisierung der Kettenherstellung kontinuierlich vorangetrieben.
Quellenangabe:
Dr. Marita Pfeiffer: „Fröndenberger Kettenbuch“